Zurückessen

Über Heuschrecken und die Hierarchie der Speisen

Die Frontlinie zwischen den verschiedenen Ess-Schulen verläuft entlang der Ekelgrenze. Der Kampf wurde ohne große Erbitterung zwischen Kartoffel-und-Fleisch-Spießern und Austern schlürfenden Freigeistern ausgetragen. (Interessanterweise ekeln sich viele Austernesser von heute vor schlichten alten Gerichten wie Lungenhaschee oder paniertem Kalbsbries.)
Ekel und Appetit haben bekanntlich mit Kultur zu tun. Und damit auch mit zivilisatorischen Hierarchien. Innereien sind „niederes“ fettarmes Fleisch, die Speise der Armen, Tierfutter, von Menschen gerne verschmäht.
Ein schlagendes Beispiel für kulinarische Hierarchien ist das Sushi: In meiner Kindheit war es ein beliebter Schocker, bei Tisch zu erzählen, die Japaner äßen rohen Fisch – nicht eingelegt, nicht geräuchert, einfach roh. Ich aber war mit kulinarischen Höhepunkten wie Hawaii-Toast und Steak aufgewachsen. Die Vorstellung von kaltem Reis mit totem Fisch trieb mir Tränen des Ekels in die Augen.
Fünfzehn Jahre später aß ich mein erstes Sushi. In diesen fünfzehn Jahren war Japan vom Herkunftsland billiger Plastikprodukte zum Exporteur anspruchsvoller Unterhaltungselektronik geworden.

Le Monde Diplomatique, 14.10.2011

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